Wir ziehen zur Mutter der Gnade, zu ihrem hochheiligen Bild
Es gibt viele verschiedene Darstellungen Mariens, Bilder, Statuen, Mosaike, moderne, antike – oft sind sie stark vom kulturellen und sozialen Umfeld geprägt. Die Marienbilder sind oft "Kinder ihrer Zeit", sei es die romanische Schlichtheit, die gotische Strenge, die barocke Fülle, der Überfluss des Rokoko, die Nüchternheit der Moderne. Oder die Lieblichkeit der oft aus Italien, Lateinamerika oder Asien stammenden Statuen und Bilder, die von uns im Mitteleuropa häufig als Kitsch empfunden wird.
Auf der Suche nach einer zeitlosen Schönheit, die zum Gebet und zur Meditation anregt, entdecken immer mehr Menschen die Ikonen der Ostkirche. Ihre Erhabenheit, ja ihr aus der Zeit Genommen-Sein, unabhängig von Zeitgeist und Mode, lässt viele Menschen durch die Ikonen zum Göttlichen finden.
Bevor ich eine besondere Marienikone vorstelle, möchte ich allgemein zum Thema Ikonographie hinführen. Wichtig ist zu bemerken, dass es in der Ikonographie wenig bis keine künstlerische Freiheit gibt: Echte, originale Ikonen folgen immer einem Urbild, das kopiert wird. Es gibt dabei keinen Unterschied zwischen Christusikonen, Marienikonen oder Darstellungen von Engeln und Heiligen sowie den Mysterien der Heilsgeschichte. Der Ursprung der ältesten liegt der Tradition nach in den nicht von Menschenhand geschaffenen Bildern, wie dem Grabtuch von Turin, dem Schweißtuch von Manopello sowie dem sogenannten Abgar Bild, auch Mandylion oder Christusbild von Edessa, genannt. Bei den Marienikonen handelt es sich um die sogenannten Lukasbilder.
Im Unterschied zu einem Bild oder Gemälde wird eine Ikone nicht gemalt, sondern geschrieben. Da das Wort Gottes Fleisch geworden ist, darf es bildlich dargestellt werden; die Ikone ist also bildhaftes, geschriebenes Wort Gottes. Ein Ikonenschreiber signiert sein Werk auch nicht, sondern das Geheimnis soll ganz im Vordergrund stehen, nicht der Erschaffer. Trotzdem sind uns die Namen einiger der wichtigsten Ikonenschreiber, wie zum Beispiel Rublev, überliefert.
Ikonen wurden ursprünglich in Klöstern von Mönchen und Nonnen geschrieben, diese haben dabei gefastet, gebetet und geschwiegen. Für die Herstellung von Ikonen im klassischen Sinn dürfen nur Naturprodukte verwendet werden: Holz, Kalk, Naturfarben aus Pflanzen und Steinen gewonnen mit Wasser, Ei und Essig vermengt, sowie Gold und Silber
Beim Besuch von orthodoxen Kirchen fällt auf, dass vor den Ikonen Öllampen oft aus rotem, manchmal auch blauem und grünem Glas in goldenen Ampeln brennen. Ebenso fällt auf, dass viele Gläubige vor den Ikonen Kerzen anzünden und die Ikonen durch Berühren und Küssen verehren. Wichtig ist zu betonen, dass nicht das Bild verehrt wird, sondern die Person, die "hinter" dem Bild steht. Ikonen sind für orthodoxe Christen "Fenster zum Himmel", sie dienen nicht wie viele Kunstwerke in den barocken Kirchen als künstlerische Ausstattung oder Dekoration, sondern sie sollen die Gläubigen zur Anbetung Gottes und zur Verehrung der Heiligen, deren Beispiel wir nachahmen sollen, führen.
Die Ikone der "Mutter Gottes vom Zeichen" ist eine der ältesten Mariendarstellungen. Sie zeigt Maria bei der Verkündigung durch den Engel. Der Erzengel Gabriel ist jedoch wie bei Ikonen, auf denen die Verkündigung des Herrn dargestellt ist, nicht zu sehen. Es soll der Augenblick, in dem sie spricht: "Mir geschehe nach deinem Wort", und dieses Wort in ihr Fleisch wird, festgehalten werden. Hier erfüllt sich die Weissagung des Propheten Jesaja: "Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau hat empfangen, sie gebiert einen Sohn und wird ihm den Namen Immanuel geben" (Jes 7,14). Die Ikone verkörpert die Prophezeiung Jesajas: Maria ist das Zeichen, das Gott der Menschheit schenkt, um Hoffnung und Erlösung in die Welt zu bringen. In der Geburt des Gottessohnes durch Maria findet das von Jesaja angekündigte Zeichen seine Erfüllung. Gott schenkt allen Völkern sein Heil. Jeder Mensch kann Gottes rettende Gegenwart erfahren.
Was mich an dieser Ikone besonders anspricht, ist die Haltung Marias. Maria wird mit zum Gebet ausgebreiteten Armen dargestellt, sie erhebt ihre Hände in der "Orantenhaltung" zu Gott, von dem sie gläubig vertrauend alles annimmt und den Erlöser, den Emmanuel, empfängt. Gleichzeitig ist sie aber diejenige, die für die Kinder Gottes als Fürsprecherin eintritt.
Vor ihrer Brust schwebt ein Medaillon, Symbol des Himmels, mit dem Jesuskind, das durch sie geboren werden will. Jesus ist deutlich als Kind zu erkennen, erscheint aber doch alterslos, bzw. mit schon erwachsenen Zügen. Er ist weder ganz Kind, noch ganz erwachsen. Er selber wird ebenfalls meist mit zum Gebet ausgebreiteten Händen dargestellt. Er ist es, der für uns eintritt, der die Welt segnet und die ganze Welt umfängt. In ihm hat uns der Vater eben dieses Zeichen gesendet, damit wir das ewige Wort, durch das der Vater in der Schöpfung alles ins Leben gerufen hat, erkennen und annehmen können. Im Heiligenschein des göttlichen Kindes stehen die griechischen Anfangsbuchstaben für „der Seiende“. Mit diesem Namen hat sich Gott dem Mose aus dem brennenden Dornbusch am Fuße des Berges Horeb geoffenbart, Gott bezeichnet sich als der "Ich bin Ich" bzw. "der Seiende", der der da ist. In Jesus wird dieser Gott greifbar, begreifbar, aber gleichzeitig auch angreifbar. Jesus ist das eigentliche Zentrum der Marienikone. In der orthodoxen Tradition gibt es nur sehr wenige Darstellungen Mariens ohne Jesus, denn sie ist es, die uns zu ihrem Sohn führt. So ist auch hier das Zentrum und die Mitte der Ikone, auch wenn Maria übergroß erscheint, ihr Sohn Jesus Christus. Über Maria steht links und rechts in griechischen Buchstaben das byzantinische Marienmonogramm für "Mutter Gottes", diesen Titel hat sie im Jahre 431 beim Konzil von Ephesos feierlich verliehen bekommen. Ihre ausgebreiteten Arme und somit ihr weit wallender Mantel lassen uns auch gleichzeitig an das älteste Mariengebet der Christenheit, "Sub tuum praesidium", "unter deinen Schutz", (auf einem Papyrus gefunden, der ins 3. Jahrhundert datiert wird), denken.
Wir sind also eingeladen, uns unter den Schutzmantel Marias zu stellen und somit ganz bei Jesus, der ihre Mitte ist, zu verweilen. Der Hintergrund der Ikone ist golden, die Farbe des Lichtes, das Bild für den Himmel. Wieder soll darin erinnert werden, dass die Ikone das Fenster zum Himmel ist, durch das wir dem Himmel näherkommen, sich uns gleichzeitig auch der Himmel öffnet und schenkt. Ebenfalls auf den Himmel deuten die beiden Seraphim hin, die Engel mit sechs Flügeln, die unentwegt die Herrlichkeit Gottes anbeten – die Herrlichkeit Gottes, die erschienen ist in diesem von Jesaja prophezeiten Zeichen. Die Ikone lädt uns zur Meditation und zum Gebet ein. Die sich uns zuwendende Liebe Gottes dankbar anzunehmen, mit Maria auf das Wort Gottes zu hören und es anzunehmen, ja mit Maria Jesus Christus zur Mitte unseres Lebens zu machen. Gleichzeitig sollen wir uns fragen: Ist mein Leben zeichenhaft? Darf und kann auch ich ein Zeichen sein? Nicht, um mich selber darzustellen, sondern: Kann ich selbst ein Zeichen sein für die Gegenwart Gottes in der Welt? Wo leuchtet Christus durch mein Leben auf, in meinen Beziehungen, in meiner Lebensgeschichte?
Jeder Mensch ist als Abbild Gottes geschaffen, denn als Mann und Frau schuf er sie nach seinem Abbild. Jeder Mensch ist eingeladen, selber ein Bild Jesu, Ikone, zu werden, zu einem lebendigen Zeichen seiner Hingabe und Nähe als der Emmanuel, "der Gott mit uns".
Die Ikone der "Mutter Gottes vom Zeichen" erinnert uns daran und lehrt uns immer neu, dass wir durch Maria und an ihrer Hand geführt zur Mitte des Lebens finden, nämlich zu Christus, dem Ursprung und Urgrund des Seins, in dem Gott uns nahe ist.
Mögen diese Gedanken über die Ikone „Mutter Gottes vom Zeichen“ uns als betendes Gottesvolk immer neu dazu inspirieren.
P. Elias van Haaren OFM