Psalmen – Gebete auf dem Weg /Teil 9
"Suche Frieden und jage ihm nach!" Psalm 34,15)
Einladung zu einem erfüllten Leben
„Friede, wo bist du? Friede, gibt es dich?“ Diese Frage zu Beginn eines Chansons, das mich seit meiner Jugend begleitet, hat nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Die Welt von heute mit ihren kriegerischen Konflikten erscheint wie ein einziger Schrei nach Frieden, der aus den Herzen ungezählter Menschen kommt und sich in nicht wenigen zum Gebet formt. Sehr bewusst hat Papst Leo XIV. das Wort des auferstandenen Christus an den Beginn seines Pontifikates gestellt: „Der Friede sei mit euch.“ Und er wird nicht müde, diese Zusage Jesu zu wiederholen und eindringlich aufzufordern, doch alles zu tun, um – mit Gottes Hilfe – Wege des Friedens zu finden und sie zu begehen.
„Friede“ (schalom) – Leben in Fülle
„Friede“ (schalom) ist ein zentrales Anliegen der biblischen Botschaft, im Alten wie im Neuen Testament unserer Hoffnung. Dabei meint schalom weitaus mehr also nur Waffenstillstand oder Abwesenheit von kriegerischen Handlungen. „Friede“ und „Gerechtigkeit“ sind Geschwister, die zusammengehören und miteinander unterwegs sind. Beide zielen auf ausgewogene Beziehungen unter allen Beteiligten. Beide erfordern, ungerechte Verhältnisse zu beseitigen und ein Leben in gegenseitigem Einvernehmen zu führen. Beide sind nötig für ein „Leben in Fülle“. Dabei ist der Friede unter den Menschen innig verbunden mit der Ehrfurcht vor Gott, der Quelle allen Friedens, wie die weihnachtliche Botschaft hervorhebt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens“ (Lk 2,14).
Die Psalmen entwerfen zahlreiche Visionen des Friedens. Sie ermutigen dazu, den Frieden mit allen Kräften zu suchen und friedvoll zu leben. Hierzu gehört auch Psalm 34, aus dem wir einige Verse vertiefen.
Der Psalm folgt als kunstvoll gestaltetes Akrostichon1 den Buchstaben des hebräischen Alphabets. Mit den 22 Buchstaben des Alphabets kann man lesen und schreiben und somit die Welt deuten und interpretieren. Psalm 34 will für das gesamte Leben Halt und Orientierung geben. Dass das Leben in seiner Gänze im Blick ist, zeigt sich auch in der achtmaligen Verwendung des hebräischen Wortes kol (all, ganz): V 2: „allezeit“; V 5: „all meinen Ängsten“; V 7: „aus all seinen Nöten“; V 11: „an allem Guten“; V 18: „all ihren Nöten“; V 20: „allem wird der Herr ihn entreißen“; V 21: „all seine Glieder“; V 23: „allen, die zu ihm sich flüchten“.2

Psalm 34 – ein lobpreisendes Dankgebet
Das Gebet gliedert sich in die beiden Abschnitte V 1-11 und V 12-23, dessen erster Teil V 1-11 mit einer feierlichen Selbstaufforderung zum dankbaren Lobpreis Gottes einsetzt.
2 Ich will den HERRN allezeit preisen;
immer sei sein Lob in meinem Mund.
3 Meine Seele rühme sich des HERRN;
die Armen sollen es hören und sich freuen.
4 Preist mit mir die Größe des HERRN,
lasst uns gemeinsam seinen Namen erheben!
Der Psalmist beginnt sein Gebet aus der Bedrängnis mit einer Selbstaufforderung zum Lob Gottes. Damit weitet er den Horizont seines Lebens von Beginn an auf Gott hin aus. Sein Wunsch, Gott zu loben, der ihn ganz und gar erfüllt, ist Ausdruck seiner Sehnsucht und wird zugleich zum Zeugnis für andere. Auch sie sollen Anteil erhalten an seinem Gotteslob. Dabei hat der Beter besonders die „Armen“ im Blick, für die Gott nicht selten der einzige Halt und die letzte Hoffnung ist. So fordert er sie auf, gemeinsam mit ihm Gott groß sein zu lassen und ihm die Ehre zu geben.
Aus dem Leben lernen – Erfahrungswissen weitergeben
Das Lob Gottes und die Aufforderung, in den Lobpreis einzustimmen, sind nicht unbegründet. Der Beter weiß aus eigener Erfahrung davon zu erzählen.
5 Ich suchte den HERRN und er gab mir Antwort,
er hat mich all meinen Ängsten3 entrissen.
6 Die auf ihn blickten, werden strahlen,
nie soll ihr Angesicht vor Scham erröten.
7 Da rief ein Armer und der HERR erhörte ihn
und half ihm aus all seinen Nöten.
8 Der Engel des HERRN umschirmt, die ihn fürchten,
und er befreit sie.
Der Beter selbst hat sich in der Stunde der Not, eingeschnürt in Ängste, nicht von seinen Befürchtungen gefangen nehmen lassen. Er hat sich vielmehr auf Gottsuche begeben und dabei erfahren, dass Gott rettend an seinen Kindern handelt. Nicht zufällig erinnert das Verb „entreißen“ (nāșal) an die Befreiung aus Ägypten. Wie Gott sein Volk einst der Sklaverei Ägyptens entrissen hat, so sieht sich der Beter vom rettend handelnden Gott befreit. Und – er bezieht die Psalmenbeter in seine Erfahrungen ein. Wie er, einer der Armen JHWHs, in der Stunde der Not Erhörung fand und das von Gott ausgehende Licht ihm den Weg wies, so wird es für alle sein, die sich auf Gottsuche begeben, die ihr Gesicht Gott zuwenden und ihr Leben in Gottesfurcht gestalten. Auch der Engel des HERRN, Zeichen der Fürsorge und begleitenden Nähe Gottes, beschützt und befreit alle, die in Ehrfurcht ihren Weg mit Gott gehen.4
„Kostet und seht, wie gut der HERR ist“
Der lobpreisende Dank schließt mit der Einladung, die Nähe des HERRN zu suchen, mehr noch: sie zu verkosten.
9 Kostet und seht, wie gut der HERR ist!
Selig der Mensch, der zu ihm sich flüchtet!
10 Fürchtet den HERRN, ihr seine Heiligen;
denn die ihn fürchten, leiden keinen Mangel.
11 Junglöwen darbten und hungerten;
aber die den HERRN suchen, leiden keinen Mangel an allem Guten.
Die Erfahrung des Beters (V 5: „Ich suchte den HERRN …“) ist gültig für alle Gott-Suchenden (V 11: „die den HERRN suchen, leiden keinen Mangel an allem Guten“). Während die Reichen und Starken – Junglöwen sind ein Bild für sie – darben und hungern, finden die Gottsucher Leben in Fülle, ein Motiv, das sich im Magnifikat Marias findet (vgl. Lk 1,53).5 Zweimal ist in V 10 von Gottesfurcht die Rede (vgl. auch V 8.12). Damit ist nicht eine diffuse Angst vor Gott gemeint. Im Gegenteil! Gottesfurcht ist die Grundhaltung eines Menschen, der sich seiner Geschöpflichkeit bewusst ist und im Wissen um seine Grenzen seinen Weg in Ehrfurcht mit Gott geht, indem er sein Leben nach dem göttlichen Willen ausrichtet. Schon die Spruchweisheit Israels weiß, dass die Gottesfurcht ein „Lebensquell“ (Spr 14,27) ist. Wer aus dieser Gottverbundenheit lebt, ist selig zu preisen. Er soll die beglückende Nähe und Güte Gottes nicht nur mit den Augen des Glaubens wahrnehmen, sondern sie auch verkosten: „Kostet und seht, wie gütig der Herr ist“.6
Psalm 34 – Unterweisung in der Gottesfurcht
Der zweite Hauptteil – V 12-23 – bringt eine weisheitliche Lebenslehre. Er zerfällt wieder in drei Textsegmente. Sein erster Abschnitt V 12-15, auf den wir näher eingehen, charakterisiert ein Leben in Gottesfurcht. Die folgenden beiden Abschnitte 16-18 und 19-23 begründen, warum ein Leben in Gottesfurcht sinnvoll und gültig ist. Steht doch der HERR auf der Seite der Gerechten und tritt für deren Lebensrecht ein. Ihr Notschrei erreicht sein Herz, wie der Beter selbst erfahren hat. Mehr noch: Gottes Solidarität und Nähe gelten besonders den Leidenden („die zerbrochenen Herzens sind“). Nicht die Gewalt- und Übeltäter haben das letzte Wort über die Geschichte, sondern Gott als Anwalt der Gerechten und als Widersacher der Frevler, die ihr eigenes Unheil über sich heraufbeschwören. Diese grundlegende Parteinahme des HERRN für eine gerechte und friedliche Lebens- und Gesellschaftsordnung ist Voraussetzung für die Unterweisung in V 12-15, auf die abschließend einzugehen ist.
Liebst du das Leben?
12 Kommt, ihr Kinder, hört mir zu!
Die Furcht des HERRN will ich euch lehren!
Mit der Aufforderung, zu hören und Gottesfurcht demütig zu lernen, setzt der Abschnitt ein. „Hören“ ist ein Grundwort in der Bibel. Nicht das viele Reden, sondern ein hörendes Herz lässt den Menschen weise werden, verbunden mit der demütigen Haltung, ein Leben lang Lernender und Gottsuchender zu bleiben. Mit folgenden Worten appelliert der Weise an die tiefste Sehnsucht im Leben des Menschen, die Sehnsucht zu leben und glücklich zu sein.
13 Wer ist der Mensch, der das Leben liebt,
der Tage ersehnt, um Gutes zu sehen?
14 Bewahre deine Zunge vor Bösem;
deine Lippen vor falscher Rede!
15 Meide das Böse und tu das Gute,
suche Frieden und jage ihm nach!
Damit der Wunsch nach einem guten Leben unter den Menschen Wirklichkeit werden kann, wendet sich der Psalmist an den einzelnen Gläubigen. Den Frieden zu suchen, ja für ihn zu kämpfen, ist jedem Menschen aufgegeben. Friede beginnt in der eigenen Lebenswelt, im eigenen Herzen. Nach dem Buch der Sprichwörter gehören Friede und der rechte Gebrauch der Zunge zusammen (Spr 15,4; vgl. auch Jak 3). „Falsche Rede“ mag sich zunächst auf Falschaussagen vor Gericht beziehen, die einem unschuldig Angeklagten das Leben kosten können. Ps 34 hat jedoch auch das gesellschaftliche Miteinander im Blick. Wie aktuell ist dieser Appell gerade heute, in einer Gesellschaft voller „fake news“, in einer „postfaktischen“ Zeit7, in der nicht die Wahrheit, sondern die Wirkung einer Nachricht zählt. Wer demgegenüber die Erfahrung der Güte und Liebe Gottes gemacht hat und seinen Weg in Gottesfurcht geht, der wird standhaft genug sein, für Wahrhaftigkeit und Achtung vor jedem Menschen einzutreten. Selbst wenn dies gesellschaftlich Nachteile mit sich bringen sollte. So bleibt die eindringliche Mahnung an alle: „Meide das Böse und tu das Gute, suche Frieden und jage ihm nach!“ (V 15).
Das Beten der Psalmen will uns dazu einladen, zu Friedensstiftern zu werden, die ihren Weg in Ehrfurcht vor Gott gehen und die dessen erfahrene Güte den Menschen weitergeben. Das ist Friedensarbeit, jeden Tag neu und ganz konkret. Es ist eine besondere Weise, der Geburt des Friedenskönigs – adventlich-wachsam – entgegenzugehen.
Prof. Dr. Franz Sedlmeier, Universität Augsburg
Nächste Nummer:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,1-22)
Jesu Christi Leidenspsalm
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Im Prolog seiner Regel nimmt der heilige Benedikt auf Ps 34,15 Bezug:
Der Herr sucht in der Volksmenge einen Arbeiter für sich und sagt: „Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?“ Wenn du das hörst und antwortest: „Ich!“, dann sagt Gott zu dir: Willst du wahres und unvergängliches Leben, dann „bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede. Meide das Böse, und tu das Gute; suche Frieden und jage ihm nach!“ Wenn ihr das tut, blicken meine Augen auf euch, und meine Ohren hören auf eure Gebete; und noch bevor ihr zu mir ruft, sage ich euch: „Seht, hier bin ich.“ Liebe Brüder, was kann uns mehr beglücken als dieses Wort des Herrn, der uns einlädt? Seht, in seiner Güte zeigt uns der Herr den Weg zum Leben.
Joh 20,19-21: Der Friedenswunsch des auferstandenen Herrn
19 Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! 20 Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. 21 Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
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[1] Akrostichon bedeutet, dass die einzelnen Verse nach den Buchstaben des hebräischen Alphabets angeordnet sind.
[2] Die Einheitsübersetzung übergeht in ihrer Wiedergabe von V 23 den Ausdruck kol.
[3] Das hebräische Wort kann auch „Grauen“, „Befürchtungen“ bedeuten.
[4] Die Erwähnung des „Schutz-Engels“ erinnert erneut an den Exodus aus Ägypten. Vgl. Ex 23,20: „Siehe: Ich werde einen Engel schicken, der dir vorausgeht. Er soll dich auf dem Weg schützen und dich an den Ort bringen, den ich bestimmt habe.“
[5] Wie sehr ein Leben aus dem Gottvertrauen Verhältnisse ändern und auf den Kopf stellen kann, zeigen mehrere biblische Texte: vgl. 1 Sam 2,5 (Loblied der Hanna); Jes 65,13; neben dem Magnifikat Marias die Feldrede Jesu in Lk 6,21.25.
[6] Für katholische Christen gewinnen diese Worte einen besonderen Klang, da sie als Einladung zum Empfang der heiligen Kommunion gesprochen werden, um die Güte des Herrn zu „kosten“.
[7] „Postfaktisch“ meint, dass die Fakten hintangestellt werden und stattdessen Aufmerksamkeit heischende Schlagzeilen das Gespräch beherrschen. Nicht die Wahrheit, sondern der messbare öffentliche Beifall zählt.
