Psalmen – Gebete auf dem Weg /Teil 7
"Ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir" (Ps 23,4)
Im Gefolge des guten Hirten
Psalm 23 ist ein sehr beliebtes Gebet. Viele gläubige Juden und Christen tragen dieses Gebet als Wegbegleiter bei sich im Herzen. Manche sind mit diesem Gebet auf den Lippen gestorben und haben ihr Leben Gott übergeben. Der Beter vergleicht Gott mit einem Hirten. Wie ein Hirte seine Herde führt und ihr nahe ist, besonders auf schwierigen und gefahrvollen Pfaden, so verhält es sich nach Psalm 23 auch mit Gott. Er ist treu. Er lässt die Seinen nicht im Stich.
1 Ein Psalm Davids.
Der HERR1 ist mein Hirt,
nichts wird mir fehlen.
2 Er lässt mich lagern auf grünen Auen
und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
3 Meine Lebenskraft bringt er zurück.
Er führt mich auf Pfaden der Gerechtigkeit,
getreu seinem Namen.
4 Auch wenn ich gehe im finsteren Tal,
ich fürchte kein Unheil;
denn du bist bei mir,
dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.
5 Du deckst mir den Tisch
vor den Augen meiner Feinde.
Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt,
übervoll ist mein Becher.
6 Ja, Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang
und heimkehren werde ich ins Haus des HERRN für lange Zeiten.
Psalm 23 – eine Idylle?
Wird hier nicht eine Idylle gemalt, eine heile Welt erträumt? Da ist von "grünen Auen" und vom "Ruheplatz am Wasser" (V 2) die Rede. Aufgrund der romantisch wirkenden Bilder tut sich mancher schwer mit diesem Gebet. Doch hören wir genauer hin. So heil ist die Welt nicht, die Psalm 23 vor Augen stellt. Von "Feinden" (V 5) ist die Rede. Da gibt es "Unheil" (V 4) und das "finstere Tal" (V 4) oder – wie sich auch übersetzen ließe – den "Schatten des Todes"2 . Wenn die "Lebenskraft" (V 3) zurückkehren muss, dann war der Beter mit seinen Kräften am Ende und bedurfte der aufbauenden "Tröstung" (V 4) durch den Hirten ("dein Stock und dein Stab"). Der Psalmist folgt also keineswegs romantischen Anmutungen. Angesichts realer Gefährdungen spricht er seine vertrauensvollen Worte. Und er nennt den Grund seines Vertrauens: "Du bist bei mir" (V 4). Sein Lebensweg führt ihn durch eine von Unheil und Gefahren bedrohte Welt. Diesen gefahrvollen Lebensweg kann er in Zuversicht gehen, weil er weiß: "Du bist bei mir" (V 4).
Der gute Hirt und der gute Wirt?
Schon beim ersten Durchgang durch den Text fällt auf, dass der Psalm zwei verschiedene Bilder verwendet: das des Hirten (V 1-4) und das des Wirts (V 5-6). Beide Lebenswelten haben ursprünglich wenig miteinander zu tun. So wurde in der Auslegung die Frage aufgeworfen, ob hier nicht zwei ursprünglich selbstständige Psalmen vorliegen, die zu einem einzigen Lied zusammengefügt wurden: der gute Hirt und der gute Wirt. Doch gibt es eine weitaus plausiblere Erklärung.
Das Hirtenbild im alten Orient
Das Bild des Hirten spielt im Alten Orient eine bedeutsame Rolle. Während wir den Hirten in unserer Vorstellung mit einem Schäfer gleichsetzen, galt "Hirt" in der Umwelt Israels als Königstitel. Die Großkönige von Assyrien, Babylon und die Pharaonen von Ägypten verstanden sich als von Gott eingesetzte Hirten. Die Herde auf fruchtbare Weide zu führen hieß für sie: das Volk vor äußeren Feinden zu schützen und im Inneren des Reiches für Recht, Gerechtigkeit und Frieden zu sorgen. Zur Hirtenaufgabe gehörte auch eine besondere Fürsorge für die Armen und Bedrängten.
Israel teilt diese Vorstellung mit dem Alten Orient, überträgt den Titel des Hirten jedoch erst relativ spät auf irdische Könige und dies in kritischer Auseinandersetzung mit deren Fehlverhalten3. Israel weiß: Gott selbst ist der wahre König und der wahre Hirte seines Volkes.
Gott als der gute Hirt seines Volkes (V 1-4)
Ursprünglich ist das Bild des Hirten auf das Gottesvolk als ganzes bezogen. Wo Gott sein Volk aus der Unterdrückung und Knechtschaft befreit, wo er sein zerstreutes Volk sammelt und eint, es schützend durch die Wüsten des Lebens geleitet und es schließlich zum Ziele führt – dort zeigt er sich als der Hirte seines Volkes. Dies gilt für die Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens wie aus der babylonischen Gefangenschaft. Der namentlich unbekannte Prophet Deutero-Jesaja4 aus der Zeit des babylonischen Exils beschreibt Gottes Handeln als guter Hirt mit folgenden einfühlsamen, ja zärtlichen Worten: "10 Siehe, GOTT, der Herr, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. […] 11 Wie ein Hirt weidet er seine Herde, auf seinem Arm sammelt er die Lämmer, an seiner Brust trägt er sie, die Mutterschafe führt er behutsam" (Jes 40,10f).
Der HERR als mein Hirte
Was ursprünglich auf das ganze Volk bezogen ist, das überträgt der Verfasser von Psalm 23 auf den einzelnen Gläubigen. Die Beterinnen und Beter des Psalms dürfen sich sagen: Dass Gott sein Volk befreit und sammelt, das gilt auch für mich. Dass er das Volk durch die Wüste geleitet, gilt auch in den Wegwüsten meines Lebens. Dass er seinem Volk ein großes Ziel bereitet hat, eine bleibende Gemeinschaft mit ihm, das gilt auch für mich, für mich ganz persönlich. Dieses große Ziel vor Augen und im Wissen um das treue Weggeleit Gottes empfangen die Beterinnen und Beter aller Zeiten die Kraft, die oft schweren Bedrängnisse ihres Lebens zu bestehen und als "Pilger der Hoffnung" unterwegs zu bleiben. Können sie doch auf die Treue des guten Hirten bauen: "Ich fürchte nichts Böses, denn du bist bei mir."
Der göttliche König als Gastgeber (V 5-6)
Im zweiten Abschnitt des Psalms ändert sich die Bildwelt. Der göttliche König erscheint als Gastgeber, der zum Mahl einlädt.5 Er bereitet die Tafel für das Bankett und öffnet sein Haus für die ankommenden Gäste. Der für das Mahl gedeckte Tisch, das kostbare "Salböl", der randvoll gefüllte "Becher", die Heimkehr ins "Haus des Herrn", "Güte" und "Huld" als zukünftige Weggefährtinnen anstelle der "Feinde": alle diese Bilder sprechen von einer bleibenden, nicht mehr verlierbaren und lebensvollen Gemeinschaft mit Gott. Zu diesem großen Ziel führt Gott sein Volk. Dorthin führt er auch mich. Dort erwartet er mich.
Gott, Hirte aller Völker
Doch die Heilige Schrift weitet den Blick. Sie sieht den Hirten Israels auch als den Hirten der Völker. Gott führt alle Völker zusammen und lädt sie ein zum Festmahl des Lebens.
"Der HERR der Heerscharen wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den feinsten, fetten Speisen, mit erlesenen, reinen Weinen" (Jes 25,6).
Der Prophet spricht von einem zukünftigen Heil, das allen Völkern offensteht. In unserer globalisierten Welt sind wir gewohnt, dass die gesamte Menschheit in den Blick kommt. Vor dem Szenario zahlreicher Krisen globalen Ausmaßes in unserer Gegenwart entwirft der Prophet kontrafaktisch6 ein äußerst mutiges visionäres Bild der Hoffnung: Gott hat die gesamte Völkerwelt im Blick. Sein Plan und sein Ziel ist es, die gesamte Menschheit unter seiner Herrschaft zusammenzuführen, sie in seiner Gegenwart zu einen und ihr Anteil zu geben an der Fülle seines Lebens.
"7 Er verschlingt auf diesem Berg die Hülle, die alle Völker verhüllt, und die Decke, die alle Nationen bedeckt. 8 Er hat den Tod für immer verschlungen und GOTT, der Herr, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen und die Schande seines Volkes entfernt er von der ganzen Erde, denn der HERR hat gesprochen" (Jes 25,7-8).
Wo Gott gegenwärtig wird, verliert selbst der Tod sein bedrohliches Gesicht. Er hat der Lebensmacht eines Stärkeren zu weichen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Einladung des guten Hirten Jesus zu hören. Das Hochzeitsmahl ist vorbereitet, der Tisch ist gedeckt. Die Gäste sind eingeladen. Nicht erst in der Zukunft. Schon jetzt, heute. Ob sie wohl kommen?
Prof. Dr. Franz Sedlmeier, Universität Augsburg
Nächste Nummer:
"Hoffe auf den HERRN, sei stark und fest sei dein Herz!" (Psalm 27,14)
Unterwegs als Pilger der Hoffnung.
Gott, der gute Hirt seines Volkes: Ez 34,11-16
11 […] So spricht GOTT, der Herr: Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. 12 Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels zerstreut haben. 13 Ich werde sie aus den Völkern herausführen, ich werde sie aus den Ländern sammeln und ich werde sie in ihr Land bringen. Ich führe sie in den Bergen Israels auf die Weide, in den Tälern und an allen bewohnten Orten des Landes. 14 Auf guter Weide werde ich sie weiden und auf den hohen Bergen Israels wird ihr Weideplatz sein. Dort werden sie auf gutem Weideplatz lagern, auf den Bergen Israels werden sie auf fetter Weide weiden. 15 Ich, ich selber werde meine Schafe weiden und ich, ich selber werde sie ruhen lassen – Spruch GOTTES, des Herrn. 16 Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene werde ich zurückbringen, das Verletzte werde ich verbinden, das Kranke werde ich kräftigen. […]
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[1] Die Großschreibung des Gottesnamens HERR oder der Bezeichnung GOTT verweist auf das Tetragramm (den hebräischen Namen JHWH).
[2] Die griechische Übersetzung gibt das hebräische Wort tsalmut "Finsternis" mit "Schatten des Todes" wieder.
[3] Vgl. etwa Ez 34,2-6: "Weh den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben! Müssen die Hirten nicht die Schafe weiden? Das Fett verzehrt ihr und mit der Wolle kleidet ihr euch. Das Mastvieh schlachtet ihr, die Schafe aber weidet ihr nicht. Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt, das Kranke habt ihr nicht geheilt, das Verletzte habt ihr nicht verbunden, das Vertriebene habt ihr nicht zurückgeholt, das Verlorene habt ihr nicht gesucht; mit Härte habt ihr sie niedergetreten und mit Gewalt. Und weil kein Hirt da war, zerstreuten sie sich und sie wurden zum Fraß für alles Getier des Feldes, als sie zerstreut waren. Meine Schafe irren auf allen Bergen und auf jedem hohen Hügel umher und über die ganze Erdoberfläche sind meine Schafe zerstreut. Doch da ist keiner, der fragt, und da ist keiner, der auf die Suche geht."
[4] Deutero-Jesaja (zweiter Jesaja) dient als Bezeichnung für einen Autor oder eine Autorengruppe, denen die Kapitel Jes 40 bis 55 zugeschrieben werden.
[5] Es ist die Metapher des "Königs", die die beiden Bilder "Hirt" und "Wirt" (Gastgeber) zusammenhält.
[6] "kontrafaktisch" weist in diesem Zusammenhang auf eine noch verborgene zukünftige Wirklichkeit hin, die der gegenwärtigen erfahrbaren Wirklichkeit zu widersprechen scheint und die nur als von Gott gewirktes Heil Wirklichkeit werden kann.